Vorgeschichte
Im Juli 2012 wurde durch eine Initiative des Volksrates „Rojava“ (Kurdisch: Westen) das syrische
Baath-Regime weitgehend unblutig von der Bevölkerung aus den Kantonen Kobani, Cizire und
Afrin vertrieben. Seitdem wird dort ein Gesellschaftsmodell aufgebaut, welches auf den Werten der Basisdemokratie sowie der Akzeptanz und Integration jeglicher ethnischen und religiösen
Identitäten, Geschlechterbefreiung, gerechten Ökonomie und einer nachhaltigen Ökologie basiert.
Im September 2013 kam es so zur Ausrufung der demokratischen Autonomie in Rojava. Diese
beruht theoretisch auf der Grundlage des demokratischen Konföderalismus nach Öcalan und
verfassungsrechtlich auf einen fortschrittlichen Gesellschaftsvertrag, welcher im Januar 2014 in den
Kantonen feierlich geltend gemacht wurde. Obwohl sich die Region halbwegs aus dem blutigen
Bürgerkrieg halten konnte, steht das Projekt immer mehr unter der Bedrohung durch reaktionäre
Gruppen, wie der islamistischen Terrororganisation „Islamischer Staat“. Ein Embargo der Türkei
gegenüber Rojava erschwert den Aufbau zusätzlich.
Politisches Konzept
Das Gesellschaftsmodell von Rojava basiert auf der Grundlage des demokratischen
Konföderalismus, welcher von dem Sprecher der PKK, Abdul Öcalan, entwickelt wurde. Dieser
wurde sehr stark von dem US-amerikanischen Theoretiker Murray Bookchin beeinflusst, welcher
ausgehend von Theorie und Praxis von sozialistischen, kommunistischen bis hin zu anarchistischen
Gesellschaftsmodellen, ein Programm konzipiert, welches den Nationalstaat ablehnt und ihm eine
Organisation mit möglichst flachen Hierarchien, das heißt eines von unten nach oben aufgebauten
Rätesystems, entgegenstellt. Zusätzlich wird großen Wert auf die Geschlechterbefreiung gelegt, da
man zu der Einschätzung gekommen ist, dass es für eine gleichberechtigte und befreite Gesellschaft
notwendig ist ganz unten innerhalb der Familie mit der Emanzipation anzufangen.
Aus den historischen Erfahrungen heraus von Genozid und Diskriminierung einiger Minderheiten
im Gebiete Mesopotamiens, haben bestimmte Minderheiten, wie zum Beispiel die Suryoye und
Armenier, gesonderte Teilhabe am Gesellschaftsmodell, um ihnen Schutz und einen sicheren Platz
innerhalb der Gesellschaft zu ermöglichen.
Darüber hinaus geht es natürlich auch darum eine andere Wirtschaftsform zu errichten, um dem
„Wachse oder Stirb -“ Kapitalismus ein nachhaltiges und solidarisches Wirtschaftssystem
entgegenzustellen. In diesem Zusammenhang steht auch die Verneinung des Nationalstaates. Der
Nationalstaat – ganz zu schweigen davon, dass er geografische Grenzen zwischen den Völkern zieht
-, schafft nicht nur auf der Landkarte, sondern auch im Kopf Grenzen, die den kapitalistischen
Ausbeutungsprozessen wie ein religiöses Element dienen. Er predigt und fördert das zerstörerische
Wirtschaftswachstum, welches er zusätzlich in Konkurrenz zwischen Nationalstaaten stellt. Als
Konzept steht deshalb ein solidarisches demokratisiertes Wirtschaftskonzept, in dem solidarische
Kooperativen bevorzugt und Bodenschätze sowie natürliche Ressourcen kollektiviert werden.
Um dieses politische Konzept umzusetzen, wird viel Wert auf einen freien Bildungssektor gesetzt,
der diese Werte vermitteln kann. Um ihnen schließlich eine offizielle Wirksamkeit und
Rechtssicherheit zu geben, wurde ein von diesen Werten beeinflusster Gesellschaftsvertrag
geschrieben.
Praktische Umsetzung
1.Rätesystem
Das Rätesystem in Rojava besteht aus vier Ebenen und ist von unten nach oben organisiert. Jede
Ebene hat hierbei ihre diversen Kommissionen, welche die Beschlüsse aus den Kommunen und
Räten umsetzen sowie das gemeinsame Leben gestalten. Das Rätesystem beginnt mit den
Kommunen, in denen sich alle Haushalte organisieren, sodass sozusagen jeder in der Gesellschaft
auch Politiker ist, welcher das Leben in seiner Straße beziehungsweise Kommune mitgestalten
kann. Auf der nächsten Ebene haben wir die Stadtteilssowie Dörfergemeinschaftsräte. Als
nächsthöhere Ebene stehen die Gebietsräte, welche zuletzt gemeinsam den Volksrat von
Westkurdistan als höchste Ebene bilden. Die Leitung der Räte und Kommunen werden von den
gewählten Koordinationsvorsitzenden der Kommune bzw. Räten sowie der Ko-Vorsitzenden aus
den Kommissionen geführt. Diese bestehen immer aus einer Doppelspitze aus Mann und Frau.
Sie haben ein Mandat, das an die Entscheidungen der Kommune bzw. des Rates gebunden ist.
Entscheidungen werden in den jeweiligen Sitzungen versucht im Konsens zu erreichen, aber dieser
hat kein Zwang, da erkannt wurde, dass ein Konsenszwang auch zur Gleichschaltung führen kann
und eine Minderheit dieses ausnutzen könnte, um der Mehrheit etwas aufzuzwingen.Trotz dessen ist
es allen wichtig das Minderheitenmeinungen zur Geltung kommen und diskutiert werden, denn die
meisten neuen Einfälle beginnen mit Minderheitenansichten.
Die praktische Umsetzung dieses System funktioniert natürlich zur Zeit noch unterschiedlich gut in
den Kantonen. So zeigt sich, dass sich durch die Anwesenheit vieler erfahrener AktivistInnen sich in
Afrin eine gute Struktur der Räte sowie ein humanes Gesellschaftsleben immer stärker etabliert hat.
Im Gegensatz hapert es in den anderen Kantonen etwas noch in der Umsetzung. Hinzu kommt, dass
die Arbeit des hohen Rates durch die Angriffe und teilweise Trennung der Kantone immer wieder
ins Stocken kommt und somit die einzelnen Kantone sich selbst zwischenzeitlich separat
organisieren müssen.
2. Kommissionen
Die Kommissionen bestehen auf allen Ebenen aus jeweils acht Fachbereichen. In manchen Orten ist
es aber durch mangelnder Kapazität oder fehlender Notwendigkeit zum Teil auch so, dass nicht alle
acht Kommissionen auf den beiden unteren Ebenen vollständig existieren. In den Kommissionen ist
die Zahl der Mitglieder in der Regel nicht begrenzt. Auf kommunaler Ebene bestehen sie aber
meistens aus fünf bis zehn Personen. Bei größerem Interesse wird die Zahl jedoch auf 20 Personen
angehoben.
Es gibt die Fachbereiche:
– Frauenrat: Besteht nur aus Frauen und dient der Herstellung der Gleichberechtigung vom Mann
und Frau, indem die Politisierung und Animierung zum sozialen Engagement von Frauen angestrebt
wird und die Sicherstellung der 40%-Mindestquote in den Räten und anderen Kommissionen sowie
der Wahl der ganzen Ko-Vorsitzenden erfolgt.
– Verteidigung: Arbeitet mit den Verteidigungseinheiten der YPG und YPJ sowie der Asayis
(Sicherheitseinheiten) zusammen. Erwähnenswert ist hier, dass die Verteidigung auf dem Konzept
der Selbstverteidigenden Rose basiert. Dies bedeutet, dass friedliche Aktionsformen bevorzugt
werden. So kam es z.B. bei der Belagerung durch türkische Truppen von Cizire zu einem
Friedensmarsch der HDP.
– Wirtschaft: Organisiert die Versorgung mit Öl, Gas und Nahrungsmittel und unterstützt den
Aufbau von solidarischen Kooperativen.
– Politik: Existiert meistens erst ab der Gebietsebene und dient den diplomatischen Tätigkeiten.
– Zivilgesellschaft: In dieser Komission sind die Berufsgruppen, KleinhändlerInnen, Kooperativen
und Werkstätten organisiert.
– Freie Gesellschaft: Ist eine Kommission, die zum Teil wie die Zivilgesellschaft organisiert ist,
aber in einem staatlichen Gebiet liegt.
– Justiz: In der Stadtteil- bzw Dörfergemeinschaftsebene bestehen Friedens- und Konsenskomitees,
welche kleine Straftaten und Streitigkeiten auf der Konsensebene zu lösen versuchen. Hier wird
versucht Menschen als Streitschlichter auszuwählen, welchen das Talent nachgesagt wird Konflikte
gut zu lösen. Auf den höheren Ebenen bestehen Qualifikationsanforderungen um eine gerechte
Rechtsprechung gewährleisten zu können. Dort werden auch schwere Delikte bearbeitet, wie z.B.
Mord. Hinzuzufügen ist hier auch die Umsetzung der Gefängnisse, denn diese dienen nicht direkt
der Bestrafung, sondern sollen hauptsächlich die Täter bilden und rehabilitieren, um ihnen zu
zeigen dass man auch friedlich in einer freien Gesellschaft leben kann. Die meisten Straftaten
werden nämlich eher als ein Produkt einer ungerechten und zerstörten Gesellschaft angesehen.
– Ideologie: Dient der Politischen Bildung und organisiert die Bildungseinrichtungen.
Besonderheiten und Anmerkungen
Aus dem Grund, dass in dem Gebiet ein Bürgerkrieg herrscht, ist es natürlich nicht so einfach ein
freiheitliches System aufzubauen, sodass auch einiges nicht so schön abläuft. Zu nennen sind vor
allem Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen, die in einem Bericht von Humans Rights Watch
aus dem Jahr 2014 erhoben werden, zum Beispiel Vorfälle von Folter von Häftlingen sowie den
Einsatz von Minderjährigen Jugendlichen. Menschenrechtsverletzungen sind zwar Normalität in der
von Krieg und Gewalt dominierten Region, doch das darf keine Entschuldigung sein, denn die
Massstäbe hinsichtlich Menschenrechte sind für Rojava höher anzuseten als für die despotischen
Nachbarländer, da mit dem freiheitlichen Gesellschaftsvertrag die Selbstansprüche auch höher sind.
Gleichfalls darf es keine grundsätzliche Absage des Gesellschaftsexperiments in Rojava sein, denn
der Erfolg des Projekts zeigt sich gerade daran, welche Aufklärungs- und Sanktionssysteme in
Rojava entwickelt werden, um die Anzahl von Menschenrechtsverletzungen zu minimieren. Trotz
dessen besteht in Rojava ein interessanter Prozess, der möglicherweise dauerhaft in eine
freiheitliche und gerechte Ordnung führt. Jedenfalls kann man aber jetzt schon sagen, dass die
Menschheit allein durch die Schaffung einer Öffentlichkeit über der neuartigen Idee einer
gesellschaftlichen Ordnung, wie des libertären Kommunalismus oder auch des demokratischen
Konföderalismus, von dieser Revolution profitiert. Bemerkenswert ist hier auch, dass jegliche
Menschenrechtsverträge und ein bedingungsloses Recht auf Asyl bis jetzt einmalig auf der Welt in
einem Gesellschaftsvertrag ratifiziert wurde. Zusätzlich gibt es eine Bewegung, die sich im
arabischen Raum nicht nur auf eine ethnische Bevölkerungsgruppe bezieht, sondern die gleiche
Behandlung aller Volksgruppen fordert und den Schutz von Minderheiten mit in den Vordergrund
stellt, was vor allem an dem heldenhaften Kampf der YPG und YPJ zur Rettung der Yesiden durch
das Freikämpfen eines Fluchtkorridors von Shingal nach Rojava bewiesen wurde, wo im Gegensatz
die Pershmerga (Truppen von Barzani) die Yesiden in Stich ließen. Darüber hinaus haben wir eine
Revolution der Frau, die endlich ihre Ketten des Patriarchat im wahrsten Sinne des Wortes sprengt
und einen wichtigen Diskurs erneut in Fokus bringt, nämlich dass eine Befreiung der Menschen
nicht ohne die Befreiung der Frau funktionieren kann!
Solidaritätsaufruf!
Da das Projekt wirklich unter schweren Bedingungen besteht (Embargo und Repression durch die
Türkei, andauernde Überfälle durch die IS Schergen) benötigt Rojava viel Unterstützung von
außerhalb. Daher unterstützt die Initiativen, die sich für Rojava einsetzen und spendet bitte Geld an
Organisationen, die den Aufbau und die Versorgung von Rojava organisieren. Seid solidarisch, denn
so könnt Ihr wirklich die Ursachen der ganzen Ströme von Geflüchteten bekämpfen.
Medizinische Nothilfe für Afrin (Kurdistan Hilfe ist gemeinnützig, also steuerlich absetzbar):
Kurdistan Hilfe e.V., Germany
Keyword: WJAR-Afrin
Bank: Hamburger Sparkasse
IBAN: DE40 2005 0550 1049 2227 04
BIC: HASPDEHHXXX
Textquellen:
„Demokratischer Konföderalismus“ von Abdull Öcalan
„Revolution in Rojava“ von Anja Flach, Ercan Ayboga und Michael Knapp
„Die nächste Revolution Libertärer Kommunalismus und die Zukunft der Linken“ von Murray
Bookchin
„Under Kurdish Rule – Abuses in PYD-run Enclaves of Syria“ von Human Rights Watch (Juni
2014)
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